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Writer's pictureBianca Meusburger-Waldhardt

Advenio

Updated: Dec 18, 2022

Advent.

Ich atme ein, gehe durch die hell beleuchteten Straßen und habe Zeit. Menschen eilen als bloße Silhouetten an mir vorbei. Bereiten sie sich vor, auf das Aufflackern des Lichts tief drinnen? Auf eine Geburt, zuerst im Herzen, dann nach außen überfließend, verbindend, schließlich einander wahrhaftig wahrnehmend? Ich versuche, bewusster zu gehen, einen Schritt nach dem anderen zu tun. Es fällt mir schwer, nicht meinem allzu alltäglichen Rhythmus der Schnelligkeit nachzugeben, mich zu besinnen, mir selbst zu vermitteln: Es ist Zeit, erinnere dich.


Erinnere dich an kindliche Tage, als du, ganz Körper, Gefühle und Gedanken, versankst, eintauchtest in das Heilige, frei und immer. Als du selbstverständlich Gott begegnetest, weil du ganz gegenwärtig warst, in seiner und deiner Präsenz, untrennbar. Du standest im Schnee und bestauntest einen Tannenzapfen, sahst ihn als das Wunder, das er zeitlos ist. Neben dir drängte jemand, ermahnte zum Weiter, du aber wolltest dich nicht lösen aus diesem Moment des All-Ein-Seins.


Ich halte auf der Straße inne und spüre: Das Kind hatte in seinem Sein mit und in Gott sein Herz nicht für sich behalten. Es hatte Teile seines Herzens in den Tannenzapfen, in die Bäume und Menschen rund um sich geatmet, als Samen in die Erde gestreut, ganz leicht; es hatte sich mitgeteilt, geöffnet und sich sanft in andere Herzen fallen lassen, immer und immer wieder, weil das Menschen zu Menschen macht. Das Herz fließt beständig über, es ist nicht dazu geschaffen, isoliert zu existieren oder sich aufzusparen. Aus der Isolation erblüht eine Wunde, die vielleicht zwischendurch oberflächlich verkrustet, doch darunter pocht es, wartet alles auf Rückverbindung, auf das Ende der Trennung.


Ich gehe weiter und pflanze - erst noch als zart-zögerliches Angebot - Teile meines Herzens wie Blumenzwiebeln in die Erde, die mich trägt. Gleichermaßen lasse ich die Bäume, die aus dem Asphalt zu wachsen scheinen, tief in meinem Herzen wurzeln, lasse die Krähen, die auf den Dächern Wache halten, in mir ihre Kreise ziehen. Es ist etwas ungewohnt zu Beginn, ich spüre, wie ich mich dehne, mich langsam weite. Ich platziere mein Herz in das kleine, streng regulierte Bächlein, das unweit der Straße durch die Stadt fließt und spüre seinen Wunsch nach Überfließen - oder mag dies mein Sehnen sein? Es ist einerlei, bemerke ich. Aufkeimend teile ich mein Herz und empfange aus den Herzen rund um mich. In mir lichtet sich etwas, zarte Ranken wachsen aus meinem Herzen, strecken sich der nahenden Geburt des Hellen entgegen, erneuert, frisch und sehnsuchtsvoll. Ich bereite mich vor, ich atme aus.

Advenio.



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1 comentário


Alexander Tremel
Alexander Tremel
03 de dez. de 2022

danke fuer dieses ranken aus deinem herzen, das dem sehnen meines offenen herzens so entgegenwaechst und gleichermassen bei und in mir fuer ein warmes ueberquellen reiner herzenssaefte sorgt. es werde licht und lichter in den herzen aller, die so vom quell bedingungsloser liebe grosszuegig genaehrt. ich atme ein. ich komme an. 🙏

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