Paul Bach putzte seine Brille, wie er es täglich ungefähr fünfzehn Male tat. Wie sooft half es auch nun nichts – die Nebelschwaden, die ihm die Sicht trübten, waren keine Laune seiner kurzsichtigen Augen, sondern eine Tatsache der frühwinterlichen Landschaft des östlichen Waldviertels. Er seufzte und beobachtete seinen weißen Atem, der sich in der kalten Luft in nichts auflöste. Ein weiterer grauer Sonntagnachmittag lag vor ihm. Willenlos trugen ihn seine Beine zum Dorfwirtshaus. Nachdem er die schwere Tür geöffnet hatte und eingetreten war, musste er seine Brille abermals abnehmen und unterzog sie einem umständlichen Putzritual. Auch hier, beim Wirten, konnte er aufgrund der trüben Luft nichts sehen: Der Rauch der Zigaretten vermischte sich mit dem schalen Atem der Gäste, die aufgeregt durcheinanderredend die ewig gestrigen Geschichten des kleinen Dorfes durchkauten und ihnen damit neues Leben einhauchten.
Paul Bach sank in einen Sessel am Stammtisch des Rudi-Bauern und ließ sich auf ein halbherziges Kartenspiel ein. Er lächelte, wenn man es von ihm erwartete, trank seine Schnapsgläschen anstandslos leer und trug seine Sätze zu den Dorfgeschichten bei. Er war beliebt und gern gesehen, ein tüchtiger junger Mann, den man besonders bei der sonntäglichen Abendmesse als Organist sehr schätzte. Unter der Woche nahm man ihn wenig wahr, da er pendelte, um in Wien in einem Büro seiner Tätigkeit nachzugehen, von der man beinahe nichts wusste. Am Sonntag konnte und wollte man auf Paul nicht verzichten; schließlich war niemand sonst im Stande, auf der uralten Orgel mit einer derartig gewissenhaften Hingabe zu spielen. Schon in seinen jungen Jahren war Paul Bach zum Inventar geworden: Die Orgel und Paul, Paul und die Orgel. Die Bewohner des Dorfes liebten sein Spiel, weil sie sich darauf verlassen konnten, und Verlässlichkeit war eine Voraussetzung, wollte man als anständiges Mitglied der Gemeinde gelten. Paul Bach entsprach dieser Erwartung völlig; er gab den Menschen, was sie wollten: wiederkehrende Melodien, eindringliche Lieder, und am Abschluss jeder Sonntagabendmesse spielte Paul Bach Johann Sebastian Bach, Präludium und Fuge in d-Moll. Paul liebte seinen Namensvetter Bach, und das hatte viele Gründe. So labte er sich etwa an den harmonischen Verläufen seiner Stücke. Johann Sebastian Bach war ein Logiker gewesen, ein Mensch, der mit Zahlen gearbeitet hatte, eindeutig und präzise. Das beruhigte Paul und gab ihm Sicherheit; die Noten erschienen ihm wie Äste eines starken Baumes, an welchen man sich getrost festhalten konnte, man würde nicht fallen. Bachs Stücke versetzten Paul in einen ruhigen, ausgeglichenen Zustand, und das spürten die Besucher der Kirche. Sie waren sich dessen nicht bewusst, doch sie liebten und brauchten Paul, weil er ihnen vorspielte, wonach sie sich am meisten sehnten: Halt, Vertrauen, Beständigkeit. Alles sollte so bleiben, wie es war, dies war der geheime Wunsch der kleinen Gemeinschaft.
Sinnierend leerte Paul sein drittes Schnapsgläschen und machte sich auf den Weg nach Hause, um einen dicken Pullover für die Abendmesse zu holen. Er trat hinaus in den Nebel und tat langsam einen Schritt nach dem anderen auf dem rutschigen Asphalt. Er fühlte sich leer. Nicht unglücklich – nein, unglücklich war Paul Bach nicht. Seit Jahren war er einfach eingelullt, stagnierend und festgefahren. Es gab keine Gründe, die Richtung oder die Geschwindigkeit seines Lebens zu ändern. Er war auf Kurs. Die Tatsache, dass ihm diese schlichte Gegebenheit nicht genug war, verdrängte er immer wieder erfolgreich. Irgendwann, so dachte er bei sich, würde etwas passieren. Vielleicht würde er sich eines Tages in Wien eine Wohnung suchen, um näher bei seiner Arbeitsstätte sein zu können. Seine Eltern, in deren Haus Paul das Dachgeschoss großzügig ausgebaut hatte, hätten natürlich Verständnis. Schließlich wollte er eventuell einmal eine Familie gründen. Paul Bach wartete tief drinnen auf einen Impuls, doch das kleine Dorf im beschaulichen Waldviertel war frei von Beben und Erschütterungen jeglicher Art. Und so behielt er, wie auch alle anderen in seinem Umfeld, seinen Kurs beharrlich und unbeirrt bei.
Als Paul die Kirche betrat und die enge Treppe zur Orgel hochging, war es bereits dunkel. Schemenhaft erkannte er die bekannten Gestalten, die jeden Sonntagabend an diesem Ort verbrachten. Die Menschen kamen in erster Linie nicht aufgrund ihres Glaubens in die Kirche, vielmehr zogen sie einander an, wollten sehen, ob alles noch seine Ordnung hatte. Sie waren gekommen, um sich Bestätigung zu holen; diese stellte für sie das tägliche Brot für die jeweils kommende Woche dar, von diesem konnten sie leben und zehren.
Geduldig wartete Paul Bach auf seinen persönlichen Höhepunkt der Messe, den Auszug. Er versuchte sich zu konzentrieren, doch an diesem Abend gelang es ihm nur schwer. Er suchte nach einem Grund für diese Unpässlichkeit, doch es gab nichts, was ihn in einen inneren Aufruhr versetzt haben könnte, schließlich war nichts vorgefallen. Lediglich die rechte Hand schmerzte ihn ein wenig, er konnte sich allerdings nicht erinnern, sich irgendwo verletzt zu haben. Wahrscheinlich hatte er die Veranlagung zur Gicht von seinem Vater geerbt. Schulterzuckend tat er den Gedanken ab, streckte die Wirbelsäule durch und reckte entschieden das Kinn nach vor. Es war wieder einmal so weit, die Feier hatte ihr Ende gefunden und Paul Bach spielte Johann Sebastian. Seine Finger glitten über die Tasten, er schloss für manche Momente die Augen, um sie umso intensiver erleben zu können: die Reinheit, die Präzision der Fuge. Er fühlte sich stark und sicher, gut aufgehoben und warm geborgen in diesen Noten, welche ein rationaler Geist geboren hatte. Die Kontrolle, die er über dieses Stück und somit über die Menschen, die der Musik lauschten, hatte, verband ihn mit seinem Instrument und erfüllte ihn für einige kostbare Augenblicke mit einem Gefühl der Unbesiegbarkeit.
Diesmal endete die grenzenlose Lust am Spiel allerdings abrupt und früher als sonst. Als Paul zum Schlussakkord ansetzte, sah er mit weit aufgerissenen Augen, wie sich der kleine Finger seiner rechten Hand offensichtlich in Zeitlupe seltsam bog und nicht mehr zu ihm gehören zu schien. Er sah es, bevor er den dazugehörigen Schmerz fühlte. Es überkam ihn wie ein Krampfanfall; so sehr er sich in diesen Bruchteilen einer Sekunde bemühte, seinen kleinen Finger unter Kontrolle zu bringen und auf der richtigen Taste aufsetzen zu lassen, es wollte ihm nicht gelingen. Auch konnte er die Bewegung seiner Hände und Arme nicht mehr stoppen, und so landeten seine weichen Fingerkuppen unbarmherzig auf den weißen und schwarzen Tasten. Paul Bach hatte die Augen mittlerweile fest zusammengekniffen, als könnte er so auch seine Ohren vor dem erwarteten missglückten Ton schützen. Klare Luft entwich den alten Orgelpfeifen und breitete sich in Wellen in dem Gemäuer aus. Es war nicht der Ton, den Johann Sebastian Bach für das Stück vorgesehen hatte; genauer gesagt war es überhaupt keiner der Töne, die jemals zuvor zu Papier gebracht oder gespielt worden waren. Paul Bachs verkrampfte Finger entluden sich auf den Tasten in einem neuen Klang, der, bevor er alle anderen Menschen in der Kirche erreichte, den jungen Organisten tief drinnen anrührte. Er nahm die Hände nicht von den Tasten. Der Ton hatte mittlerweile die geduckte Menge in den Kirchenbänken erreicht und hallte dort nach. Er erschütterte und berührte die Menschen und rüttelte an ihnen. Er bahnte sich einen Weg in ihr Innerstes und begann dort zu sprühen. Man horchte und atmete, hob die gesenkten Köpfe und blickte nach vorne.
Draußen, vor dem Tor der Kirche, lichteten sich die schweren Nebelschwaden. Es versprach, eine sternenklare Nacht zu werden.
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