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Writer's pictureBianca Meusburger-Waldhardt

Verspielt

Ich möchte mich zu Beginn dieses Textes ausdrücklich bei Ihnen entschuldigen, werte Leser. Sie müssen wissen, ich, Paul Schönberg, schreibe dieses Stückchen Prosa nicht aus freiem Willen, es wurde mir von Schwester Maria aufgetragen. Schwester Mimi, wie ich sie liebevoll nenne, meint es nur gut mit mir, sie würde gerne Licht in meine düstere Existenz bringen. Allein es ist umsonst, nichtig, hinfällig, vergebens, aber ich teile ihr dies nicht mit, sondern lasse sie in dem Glauben, die Mission würde ihr mit Bravour und Erfolg glücken. Unter uns gesagt möchte ich einfach nur ewig schlafen, denn ich habe genug, und das seit langer Zeit. Sehen Sie, jemand wie ich, der das Pech hatte, die ersten beiden Weltkriege mitzuerleben, ist ein Krug Wasser, randvoll gefüllt. Ein schönes Bild, nicht wahr? Man denkt an Frische und Klarheit. Das Wasser in diesem Krug, werte Leser, erfrischt aber niemanden. Es ist schal und alt und abgestanden, hat trübe Kalkspuren an der glatten Innenseite des Kruges hinterlassen und findet somit keine Verwendung mehr. Da das Gefäß aber völlig gefüllt ist, kann auch kein reines, kristallklares Wasser nachgegossen werden, und somit ist es zweckentfremdet. Ich bin voll, voll mit Erinnerungen, wie sie tausende Menschen auf dieser Welt mit mir teilen, aber niemand will sie hören, denn es gäbe nichts, das ich erzählen könnte, worauf Sie, meine geduldigen Leser, noch erstaunt, ja vielleicht sogar entzückt die Augenbrauen heben könnten. Nur eine Angelegenheit, die sich hier, im Heim Sophienthal, heute Vormittag zugetragen hat, ist es laut Schwester Mimi wert, zu Papier gebracht zu werden. Sie denkt, ich wollte ihr eine Geschichte erzählen, aber ich schwöre bei all meinen gefallenen Freunden, es ist die Wahrheit. Und bei der Wahrheit muss man immer bleiben.


Sehen Sie, ich bin seit zwei Jahren ans Bett gefesselt, und wenn man so ortsgebunden und alt ist, dann verstreicht die Zeit nur sehr langsam. Man bekommt die Bedeutung des Wortes Zeitvertreib schmerzhaft am eigenen geschundenen Körper zu spüren und wünscht sich für einen Moment überirdische Kräfte, um all diese Sekunden, Minuten und Stunden zunichte machen und gehen zu können, gehen in sich, im Innersten verschwinden zu dürfen, dort sein zu können, wo man für immer zu Hause ist. Aber das Leben klebt an einem wie Harz an der Rinde, nur ab und zu fällt ein Tropfen zäh und dickflüssig zu Boden. Die Zeit, all diese Stunden und Aberstunden, legen sich über das eigene Dasein wie Moos, ersticken unter sich alle Hoffnung auf ein Ende, da sie obenauf Nährboden bieten für Neues; so gebiert die Zeit junge, aufdringlich tickende Sekunden, die danach gieren, sich immerzu zu vermehren, bis sie in Tage und Wochen ausarten. Man selbst, machtlos und Maulwurf unter all dieser überflüssigen Zeit, dreht sich im Uhrzeigersinn und findet keinen Ausweg, weil es keinen gibt.


Alle sind sie früher gegangen als ich, meine Frau, meine Kinder, meine Freunde. Seit Jahren hatte ich keinen Besuch mehr empfangen, bis heute ein dunkel gekleideter Mann mein Zimmer betrat. Ich war mir sicher, er hätte sich an der Tür geirrt, doch er setzte sich zu mir und fragte mich mit hohler Stimme, „Möchten Sie gerne spielen?“ Da erblickte ich das Spielbrett, welches er auf meiner Decke ausbreitete, und mein Herz tat einen wohligen Schlag zuviel. In mich schoss Freude, denn das Brett und seine kleinen, bunten Holzfigürchen erinnerten mich an glücklichere Zeiten, an Kindheit, rotbäckige Äpfel und Holz im Kamin. Der Fremde hatte Mensch ärgere dich nicht mitgebracht, und meine gichtigen Finger gierten bereits darauf, die roten Männchen auf dem Brett zum Sieg führen zu dürfen. „Wer sind Sie?“, fragte ich halbherzig, denn unter uns, meine teuren Leser, es hatte für mich keinen Gehalt und keine Wichtigkeit, wer mir hier gegenüber saß. Ich hatte Gesellschaft und durfte augenscheinlich spielen, und wenn man alt wird, wird man wieder Kind, und allen Kindern ist die Lust am Spiel eigen. „Ich besuche Menschen aller Art, wenn sie mich brauchen, und ich spiele gerne, seit jeher“, antwortete mir der Mann. Ich sah ihm ins Gesicht, aber der graue Star in meinen Augen ließ es lediglich zu, verschwommene Züge zu erkennen. Nach kurzer Betrachtung mit gerunzelter Stirn und gekräuselten Lippen kam ich zu dem Schluss, dass der Mann vom Besuchsdienst sein musste, wenn auch seinerseits krank, da er sehr blass war und eingefallene Wangen hatte. Die Hand, die er mir zum Gruß gereicht hatte, war knochig und kalt gewesen.

Wir begannen unser Spiel, ich schlug mich gut und etliche seiner schwarzen Figürchen. Meine roten Kegelchen wanderten in ihr Haus, eines nach dem anderen, und es war ein Genuss, ein Gefühl des Stolzes zu verspüren. Als die letzte meiner Spielfiguren ihr Ziel erreicht hatte, ergriff ein jähzorniger Anfall von meinem Besucher Besitz, und sofort verspürte ich Mitleid mit dem Mann. Hätte ich das geahnt, der Sieg wäre sein gewesen. Mir war es um das Spiel an sich gegangen, er dürfte jedoch auf Gewinn gehofft haben. Wütend fuhr seine Faust auf das Spielbrett nieder, die Würfel und Figuren stoben auseinander und mir wurde kalt ums Herz. Ich sah auf und blickte in die leeren Augen meines Besuchers; oh nein, gnädige Leser, nicht, dass seine Augen ohne Glanz gewesen wären, die Sache verhielt sich so, dass mein Gegenüber überhaupt nicht mit Augäpfeln ausgestattet war. Ich starrte für einen kurzen, unwirklichen Moment in glatte, marmorne Knochenhöhlen. Ich begriff, dass mein Gast generell nicht auf die Butterseite gefallen war, was Körperhaftes betraf, denn unter seinem schwarzen Umhang zeichneten sich zwar Knochen ab, doch ich konnte nichts Warmes, Fleischliches, Menschliches erkennen. Mit knöcherner Hand zog er etwas aus seinem Mantel, der ihm gleichzeitig auch Körper war; es blitzte und glitzerte in seiner weißlichen Hand. Eine Sichel, eine Sense, ein sagenhaftes Glück, welches mir beschieden war – man war endlich gekommen, um mich zu erlösen, um mich zu holen. Ich fühlte mich zwar ganz elend, denn ich zitterte und schauderte in der Gegenwart dieses grimmigen Vetters, doch er war mir sehr willkommen, brachte er doch als frohe Botschaft das Ende meiner Tage mit. Doch das Glück sollte heute nicht auf meiner Seite sein. Der Sensenmann schleuderte mit verbitterter Miene die Sichel in die Wand, stand dann auf und beugte sich ganz nah zu mir. Sein Atem war Eis in meinem Gesicht, als er sagte: „Mann, du hast es verspielt. Gegen den Tod gewinnt man doch nicht.“ Damit drehte er sich um, ging mit schweren, aber lautlosen Schritten davon und ließ mich, etwas zerzaust und zerfahren, in meinem Bett zurück.


Schwester Mimi betrat wenige Minuten später mein Zimmer und war voll des Tadels ob der Unordnung. Sie schalt mich vor allem für das gefährliche Spiel, welches ich offensichtlich mit der Sichel getrieben hatte, und fragte sich mehrmals laut, woher ich beides, Sense und Kraft, genommen hätte. Kopfschüttelnd packte sie das Spiel ein und war beleidigt, dass ich noch nie auf die Idee gekommen war, sie um eine Partie Mensch ärgere dich nicht zu bitten. „Sie, Herr Schönberg, Sie ärgern uns alle ganz schön maßlos hier, wo wir doch alle so bemüht um ihr Wohl sind“, schimpfte sie mit zarter Stimme. Als ich ihr eindringlich erklären wollte, dass ich kurz vor ihrem Erscheinen sogar den Tod verärgert hatte, winkte sie kopfschüttelnd ab und brachte mir Stift und Papier. Ich sollte meine Geschichte einfach aufschreiben, meinte sie, sie habe für heute genug von meinen Grillen.


Am Ende meiner Zeilen angelangt, danke ich Ihnen, die Sie mit mir durchgehalten haben, aufrichtig und von ganzem Herzen. Ich warte hier, in meinem Bett, und hoffe, dass der Gevatter mir gnädig ist und sich nach der Überwindung seines hitzigen Gemütszustandes – welcher seiner Natur durchaus zuwider sein muss, nicht wahr, meine lieben Leser? – auf ein weiteres Spielchen mit mir einlässt. Ich werde ihn dann auf jeden Fall gewinnen lassen.




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2 Comments


Waltraud Zechmeister
Waltraud Zechmeister
Feb 14, 2023

Eine sehr schöne Geschichte, ist sie von dir?

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Bianca Meusburger-Waldhardt
Bianca Meusburger-Waldhardt
Feb 14, 2023
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Danke fürs Lesen, liebe Waltraud! Ja, klar, alle Texte auf sprachspielen.at sind von mir geschrieben.

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