It’s a sin that somehow light is changing to shadow (Pink Floyd, On the turning away)
„Es ist nur Jogurt“, erkläre ich C., die mir gegenüber sitzt und den Löffel in ihren zittrigen, knorrigen Fingern befremdet anstarrt. Manchmal vergisst sie, dass Jogurt einfach nur Jogurt ist, ebenso, wie sie sich nicht mehr dran erinnert, dass ihr Mann schon lange tot und sie keine flotte fünfzig mehr ist. Dann möchte sie wild aufspringen, tanzen und johlen, aber diesen Wunsch erkenne nur ich; die Pfleger, die gutmütigen Schrittes herbeieilen und die schwächliche Dame, die ohne ersichtlichen Grund aus Decke und Sessel fällt, zu beruhigen versuchen, sind der Meinung, sie erlitte ab und zu einen Anfall von plötzlicher Muskelschwäche. Aber da liegen sie falsch, denn während C. dürr und beinahe lautlos, aber mit heldenhaftem Anmut zu Boden sinkt, höre ich, dass sie leise und mit beinahe unerträglich hoher Stimme Funkytown von Lipps Inc. summt. Die Schwestern vernehmen darin natürlich ein schmerzliches Jammern, aber ich lächle tief drinnen und denke an durchgetanzte Nächte und glückselig kaputte Schuhe.
Ich sehe C. an, sie grinst, nickt, kostet; ein bisschen suspekt ist ihr der weiße Brei immer noch, sie isst ihn dennoch bedächtig und schaut mit glänzenden Augen auf den Weihnachtsbaum, den Schulkinder mit viel Liebe und grauenhaft falsch intonierten Liedern den Heimbewohnern dargebracht haben. Wir mögen beide Glitzer und Kitsch, und so blicken wir verschleiert auf die bunten Kugeln, die das Licht reflektieren, C. friedlich in innerliche Watte gepackt und ich gemächlich auf dem Weg in denselben Zustand.
Wir beide, C. und ich. An manchen Tagen vermute ich, dass sie nun über Nacht auch mich vergessen, ihr Gehirn weiteren Ballast einfach abgeworfen hat. Umso intensiver ist mein Aufleben, wenn ich an ihren Augen erkenne, dass die Stunde, in der wir uns wieder so fremd werden wie uns alle Menschen nur am Tag unserer Geburt fremd sind, noch nicht geschlagen hat. Auch ich spüre, wie ich mich auf Wellen von den Ufern der Realität wegbewege, schaukelnd durch Nebel, mal klaren Himmel, dann wieder die Hand vor Augen nicht erkennend. Aber ich sorge mich nicht, wir sind hier gut aufgehoben. Ich versuche nur, in einzelne Bilder der Ausstellung meines Lebens sooft als möglich einzutreten, um zu verhindern, dass sich die Gemälde unter meinen Blicken in Farben und Wasser auflösen und mir zu undurchsichtigem Schlamm zerrinnen.
Kunstwerke, das sind sie tatsächlich, diese feingesponnenen Erinnerungen, und ich bestaune sie vorsichtig, um nicht alle liebgewonnenen Eindrücke von einst gierig aufzusaugen und mich für immer in ihnen zu verlieren.
Eines dieser Bilder ist aus der Vogelperspektive aufgenommen. Es zeigt einen Wiesenstreifen; an der Färbung des Himmels kann man erkennen, dass der Sommer träge geworden ist und in den Herbst übergeht. Im Gras sitzend, C. und ich. Wir haben einander jeden Tag und lassen uns in diese Selbstverständlichkeit hineinfallen. Die Abende sind lau, und wenn wir kurz innehalten, erahnen wir die Wolken, die über unseren Köpfen aufziehen werden, wenn wir ratlos an plötzlichen Weggabelungen anhalten und den Blick voneinander abwenden. Ein anderer Eindruck: Wir beide, wie wir einander gegenüberstehen, unbekannt, verletzt, verwirrt und erstmals verbittert. Wir möchten uns gerne die Hände reichen und berühren dabei unsere Schatten. Und dann, irgendwann, finden wir uns wieder, ohne wirklich auf der Suche gewesen zu sein. Wir sehen uns an, kindlich und wahr.
Manche späteren Bilder sind mit einer Schicht aus salzigem Staub bedeckt, ich versuche, sie abzuwischen, um alles deutlich betrachten zu können, aber es will mir nicht gelingen, und eigentlich laufe ich mittlerweile meinen Vorstellungen und Gedanken hinterher, ich kann nicht ganz verstehen, was ich hier zu finden versuche. Ich greife nach weiteren Portraits und halte erst skizzenhafte Aufzeichnungen, dann leere Rahmen in den Händen, die schließlich modrig in meinen faltigen Händen ins Nichts zerfallen.
Ich blicke nach vorne und sehe grünes Gestrüpp, das bunt geschmückt ist, seltsam anmutet und in mir ein wohliges Gefühl auslöst, ich rieche Lebkuchen, oder ist es doch alte Baumrinde? Wer kann das schon sagen. Ich entdecke verwundert, dass ich eine kleine Schüssel, die mit einer weißen Masse gefüllt ist, mit der linken Hand ungelenk umklammere; auf meinen Knien liegt ein Löffel und ich versuche zitternd, danach zu greifen. Staunend bemerke ich, dass sich auch meine Lippen bewegen, ich murmle leise. Ich fasse mich etwas, blicke mich um und schließlich in die Augen einer sehr alten Frau, die, in eine Decke eingewickelt, neben mir sitzt und mich eindringlich und liebevoll beäugt. Ich kenne sie nicht, aber nah bei ihr möchte ich mich ausruhen dürfen. „Es ist nur Jogurt“, sagt sie, und ich glaube ihr.
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