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Writer's pictureBianca Meusburger-Waldhardt

Geliebter Gevatter

Updated: Dec 3, 2022

Ich war an jenem trüben Tage, der sich träge zog wie die Nebelschwaden durch die Gassen, zugegeben etwas gedrückt. Die Kapuze meines Mantels hing mir tief in die hohe Stirn, gebeugt von Zeit und Zufällen schlich ich lautlos über den nasskalten Asphalt. Ich wähnte mich alt, oder eher zeitlos, und solche Anwandlungen sind bei Gott keine wünschenswerte Voraussetzung für meine Profession, die mir stets ein hohes Maß an sozialem Engagement, aber auch an unmenschlicher Distanz und Diskretion abverlangt. Ich hielt einen Moment inne, richtete mich auf und schritt entschlossen voran.

Nun denn. Café Central, mitten im morbiden Wien, letzter Tag im winterlichen November des Jahres 1996, 19 Uhr. Ich bin immer pünktlich, um meine Klienten zu treffen. Klara Schön, 87 Jahre gereift, saß an einem winzigen Tischlein in einer verrauchten Ecke und ließ eine sehr lange, überaus dünne Zigarette elegant-verkommen aus ihrem rechten Mundwinkel hängen, während ihre überraschend klaren Augen auf den Lettern der Seiten eines alten Bändchens ruhten. Marcel Proust, In Swanns Welt. Sie war ganz Dame und fragil, mit einer Haut, so zart geknittert und vergilbt wie das Papier des Buches, in welchem sie las. Dieses Bild, diese Komposition jener Frau, so verletzlich und beschützt, einsam in einer Ecke eines gut besuchten Lokales, berührte mich auf eine Art und Weise, die mir zuvor nicht bekannt gewesen war. Es überfiel mich just die Erkenntnis, dass ich noch nie von einer menschlichen Gestalt verblüfft, betroffen, ja, derartig zu Donner gerührt gewesen war, und für einen Moment suchte ich Halt, stützte mich auf die Schulter eines teeschlürfenden Mannes, welcher unter meinem Griff kurz aufstöhnte und sich mit verzerrter Miene abwandte. Ein unfreundliches Volk, diese Wiener.

Einerlei, ich war verzaubert. Sie war schön, diese Klara. Sie strahlte in der Ecke, die Essenz ihres Menschseins durchdrang mich und für einen Augenblick war ich erkannt, war ich überaus menschlich und zugehörig. Es mag kitschig klingen wie der Wiener Walzer, sich schmalzig anfühlen wie die alten, aufgerissenen Rotplüschsitze im Café Central, aus denen ihr Inneres quillt, als würden sie bluten, aber die Liebe nahm mich tatsächlich an der Hand, verlieh mir vergänglich ein Herz und ließ mich neben Klara Platz nehmen.

Wenn ich Menschen näher komme, scheinen sie zu welken, ein klein wenig zu vergehen, eine innere, nie gekannte Kälte zu spüren. Ich begründe dies auf der unbequemen Tatsache, dass sie sich, da mir schließlich gegenübersitzend, letztendlich mit sich selbst konfrontieren müssen, das bringt meine Berufung mit sich. Die Klientin Klara Schön allerdings zuckte nur leise zusammen, schlug die Augen auf und sah mir fahl, aber mit rosigem, fast fieberhaftem Glanz auf den Wangen voll Zuneigung direkt in mein glattes Antlitz. Die Rührung in mir erlebte ein erneutes Aufflackern, und ich wollte weichen, wollte Klara ewiges, freudvolles Leben schenken und mich mit ihr an selbigem erfreuen. Fräulein Schön (und ich bestehe darauf, sie trotz ihres Alters so bezeichnen zu dürfen) legte den Roman in ihren Händen bedächtig zur Seite, strich sich die ergrauten, mädchenhaften Haarsträhnen aus dem weichen Gesicht und fasste sich an ihre Brust, gequält, aber auch plötzlich verjüngt und befreit lächelnd. „Geliebter Gevatter“, hauchte sie, „du bist da“. Ihre tiefe, aufrichtige Emotion ließ mich erleben und empfinden, und in einem mir gänzlich fremden Überschwang umarmte ich sie, hüllte sie schützend in meinen Mantel, wünschte für den Bruchteil einer Sekunde mir und Klara ewige Einheit.

Als ich die Umarmung endlich löste, immer noch erhöht von diesem Gefühl, welches mir gleichsam schon wieder fremd geworden war, versammelte sich eine Menschentraube um Klara Schön, die leblos zusammengesackt in der Ecke lehnte. Ich zog mich zurück, versuchte, eine Ahnung, eine Erinnerung an diese seltene Empfindung zu wahren, die mir doch grundsatzbedingt völlig fremd sein müsste. Allein, sie entfloh, entglitt mir, verlor sich im Dunstnebel des Café Central. Noch einmal blickte ich auf Klara, und sah nichts mehr als eine tote, alte Frau mit leerem, starrem Blick.

Am Ende wie am Anfang ähneln die Menschen einander sehr. Zwischen diesen beiden Eckpfeilern ihres Lebens ist es ihnen vorgeschrieben und vergönnt, zu leiden und zu lieben, Tag für Tag. Ich werde beständig als ungebetener Gast wahrgenommen, obwohl ich sie doch vom Tag ihrer Geburt an begleite, ihnen oftmals näher bin als es irgendjemand sonst zu sein vermag.

Manchmal habe ich teil, werde in ihr menschliches Treiben gezogen, deute kurz ihre Empfindungen als die meinen. „Geliebter Gevatter“, hatte sie gesagt. Ich legte meine Hand auf meine Rippen, wo kein Herz war, eine sentimentale Geste. Dann schüttelte ich mich, machte auf meinem bloßen Absatz kehrt und begab mich auf den Weg, der niemals Ziel noch Ankommen kennt.


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